Kapitel 10

Sie war das Nichts. Wenn sie schon vorher existierte, existierte sie nur als Möglichkeit, die sich über den Äther erstreckte. Einmal gab es vielleicht einen Körper, eine Ahnung eines noch unfertigen Gefäßes, und eine Seele, eine Ahnung eines noch verschlüsselten Geistes, aber das alles war noch nicht real.

Dann begann das Universum, und sie war frei, geboren zu werden.

Zuerst gibt es ein Mandala, und auf den Ringen dieses Mandalas sternenklare Edelsteine.

M A R A R A M, geschlossene Symmetrie, ein Geheimnis in sich selbst. Sie entfernt die Mitte, damit die Perfektion verschwindet, offen am Ende, nicht zum eigenen Anfang zurückkehrend, sondern in die mögliche Zukunft weisend. M A R A, die Permutation einer Beziehung in eine andere, aus MA wird RA, aus RA wird das, was noch kommen kann. Zwei Punkte weisen auf eine Linie hin.

Mit dieser Amputation um die Narbe herum wird sie geboren. Erwacht mit einem Atemzug. Kalter Stein unter ihren Schultern und ihrem Rücken, ein strahlendes Gesicht über ihr. „Mara?“, sagt es.

„Was bin ich?“, flüstert Mara.

„Die Zweite“, sagt die Frau. „Ich bin Alis. Und glaube, du bist Mara …“

Der Himmel hinter Alis blüht mit Sternen, ein Lichtschleier wie Sonnenstrahlen im Nebel, reicher als ein galaktischer Kern. Über diesem Nachthimmel wölbt sich die unmögliche Zwillingsform eines doppelten Planetenrings. Mara staunt. „Ich erinnere mich“, sagt sie. „Ich war an der Leine ...“

Das plötzliche Verlangen, diese Erinnerung geheim zu halten, schließt ihren Mund. „Wir sind auf einer Welt“, sagt sie stattdessen. „Wie lange bist du schon allein?“

„Schon ewig, glaube ich. Komm.“ Sie hilft Mara auf die Füße. „Ich will dir zeigen, was ich gefunden habe.“

Es ist eine Welt, die wächst, eine Welt, die gedeiht. Das Gestein ist reich an Platinadern, und Mara schmeckt prickelnde Einschlüsse von transuranischen Elementen in einer Fingerspitze der Erde. Silberne Flüsse fließen in fraktalen Deltas zu Seen, die so still und hell sind wie Kühlwasserbecken. Dichte Wälder, alle an der Wurzel zu einem einzigen Baum verwoben. Es gibt Leben von solcher Vielfalt und Energie, dass jedes neue kriechende Wesen, das sie sehen, eine eigene Spezies sein muss. Oder Arten haben hier keine Bedeutung, und alles, was lebt, kann sich vermischen.

Aus dem Horizont ragt ein gigantischer Metallspeer. Der Kopf des Speers ist eine Metallschale, kilometerweit im Fels vergraben.

„Ich weiß nicht, was es ist“, sagt Alis. „Ich weiß nur, dass es mir gehört.“

Sie begeben sich ins Innere.

„Es muss andere geben“, sagt Mara dann. „Es gab Platz für andere. Für Tausende von Anderen. Wo sind sie?“

„Sie sind dort, wo du warst. Wir müssen sie real machen.“ Li starrt Mara an, die kleinen Linien und Furchen ihrer Haut gezeichnet von weißem Feuer. Ihre strahlenden Augen verengen sich. „Warum warst du die Zweite? Warum gerade du?“

„Ich weiß es nicht“, lügt Mara. Es ist die erste Lüge, die je erzählt wurde, das erste Geheimnis.