Kapitel 5

„Abuela? Ma'am?“

Die Stimme war leise, fast schon ein Flüstern, doch sie war laut genug, um Eva aufzuwecken. Für einen kurzen, verwirrenden Moment dachte sie, sie würde wieder in ihrem Wohnzimmer im Wanderfalkendistrikt sitzen – ihre Lieblingshäkeldecke am Ende der Couch und Carlos, der über ihr stand. Doch es war nicht Carlos.

Die besorgten Augen des Jägers, Ramos, waren auf sie gerichtet. Einige der Hüter, die zeitweise Teil des Untergrunds waren, hatten sie Großmutter genannt, aber Ramos war während all der langen Monate der Schlacht bei ihnen geblieben.

Er war sehr beschützerisch, manchmal beinahe schon erdrückend und sie seufzte, als sie sich die Augen rieb. „Ich bin wach, ich bin wach. Wie viel Uhr ist es?“ Sie setzte sich auf der alten Couch, auf der sie schlief, auf und zuckte zusammen, während sie versuchte, die Verknotungen zu lösen, die sie vom Schlafen auf der Seite hatte.

„Fast sieben Uhr?“ Seine Stimme war ruhig und ein wenig verlegen.

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Du hättest mich vor einer Stunde wecken sollen.“

Er grinste schief. „Du hast den Schlaf gebraucht.“

Sie stand vorsichtig auf, tappte auf unsicheren Beinen und drehte ihr Gesicht von ihm weg, damit er ihre Verärgerung nicht sah. „Warten sie schon?“

„Sie sind gerade erst angekommen. Was einer der Gründe war, warum ich gewartet habe. Sie erwarten dich erst in ungefähr zehn Minuten“, versuchte er sich zu rechtfertigen.

Eva seufzte wieder. „Danke, Ramos. Du hast Recht. Den Schlaf habe ich wirklich gebraucht. Ich war gestern Nacht wieder zu lange wach. Sag ihnen, dass ich gleich runterkomme.“

„Ja, Ma'am.“ Er klang jetzt fröhlicher und seine Schritte waren auf dem Weg nach unten leicht und selbstbewusst.

Eva ging in das Badezimmer, das neben dem Wohnbereich dieser Wohnung im zweiten Stock lag. Wie üblich goss sie etwas Wasser aus dem Rationskanister in das verstöpselte Waschbecken, um sich zu waschen und sich nicht mehr ganz so zu fühlen, als hätte sie auf einer halbverrotteten Couch in einem verlassenen Gebäude geschlafen.

Wasser tropfte ihr von der Nase und sie griff blind nach einem der Stofffetzen, die sie als Handtuch benutzte, und trocknete ihr Gesicht. Als sie wieder klar sehen konnte, sah sie ihm Spiegel nur eine Fremde.

Eva war schon immer eher dünn gewesen. Sie konnte sich immer noch daran erinnern, wie ihre Mutter sie gerügt hatte, wenn sie ihre Mahlzeiten nicht komplett aufgegessen hatte. Die Frau, die ihr jetzt gegenüber stand, war geradezu ausgemergelt. Ringe unter den Augen, brutal kurzes Haar ... und ihre Klamotten! Die Kleidung, die sie am Tag des Angriffs getragen hatte, hatte keine zwei Wochen durchgehalten, denn für das raue Leben war sie nicht gemacht. Das selbstgemachte Outfit, das sie sich zusammengenäht hatte, hätte ihrer Musterung im Turm niemals standgehalten, aber ... hier draußen musste es reichen. Zumindest hatte sie ihr Markenzeichen, den Schal, retten können. Er erinnerte sie an bessere Zeiten ...

Als sie sich ins Wohnzimmer begab, dachte Eva darüber nach, dass bessere Zeiten natürlich der Grund waren, warum die Gruppe unten versammelt war. Alle Anführer der Untergrund-Zelle hatten sie sich für ein wichtiges – und vielleicht letztes – Gespräch zusammengefunden.

Für den Untergrund war die Rote Schlacht ein unfassbarer Sieg. Sie hatten gewonnen.

Alle paar Wochen hörten sie Geschichten über Hütergruppen, die in einem vermeintlich sicheren Bunker von der Legion überrannt wurden. Der Verlust der vielen Zivilisten war niederschmetternd – sowohl durch den ersten Angriff als auch in den darauffolgenden Monaten.

Als sie durch einen Schlitz an der Seite des mit Brettern vernagelten Fensters auf die Straße spähte, musste sie sich ein Gefühl der ... Zufriedenheit eingestehen. Alles, was es jetzt noch für den Untergrund zu tun gab, war denselbigen zu verlassen, es zur Farm und zu Hawthornes Gruppe zu schaffen, die alleine durch ihre Mitgliederzahl für Sicherheit sorgen würde. Eva hob den Blick von der leeren Straße und blickte auf den Turm, der schief und ruiniert in der Ferne stand.

Sie würde sagen, dass sie sich entschieden hatte. Hüter wie Ramos dürften ab und zu nach ihr sehen, aber sie würde zurück bleiben und Stellung halten. Es könnte da draußen immer noch überlebende Flüchtlinge geben, die immer noch ... auf einen Ausweg hofften.

Sie wandte sich vom Fenster ab, um nach unten zu gehen, als die Explosion die Straße vor der Wohnung erschütterte und Evas Welt in weißem Licht aufging.