Kapitel 6

Der Mann öffnete seine Augen und atmete ruhig. Fast nichts war mehr so, wie er es in Erinnerung hatte. Eaton war weg. Dem Erdboden gleichgemacht. Das milde Klima war der einzige Grund dafür, dass die Hütten, die den Großteil der Stadt ausmachten, noch standen.

Doch der Sturm aus Licht gegen Licht hatte verbrannte Erde und Schatten hinterlassen. Und die Knochen der Toten. Es war eine blutrote Dämmerung. Der Geist schwebte über ihm.

Der Mann blickte auf seine Hände. Er versuchte zu lachen, konnte aber nur husten.

„Ist alles okay?“, fragte der Geist.

Er stand auf und zwar aufrechter, als er es für lange Zeit gewesen war. Man ähnelt den Leuten eher, wenn man sich krümmt.

„Germaine?“, fragte der Geist.

„So heiße ich nicht.“

„Du hast sie dich so nennen lassen.“

Der Mann wandte sich zu seinem Geist um. „Das ist nicht mein Name. Einer der Kriegsherren meinte, er hätte einen einzelnen Geist gesehen. Bist du nachlässig geworden?“

Der Geist nickte. „Es tut mir leid. Ich versuchte, eine neue Jagdbeute-Route zu erkunden und habe nicht aufgepasst.“

„Ich verlange nicht viel“, sagte der Mann und schüttelte den Kopf. „Schaufel. Bring mir eine.“

Der Geist scannte Trümmer und Asche, fand einen verkohlten Spaten und hob ihn mit einem Lasso aus Licht auf.

Der Mann sammelte langsam alle Knochen, die er finden konnte, und begann zu graben.

„Das Kind. Yu“, sprach der Geist weiter.

„Hör auf damit“, antwortete er.

„Was hat sie dir gesagt? Du hast am Ende mit ihr gesprochen.“

Er antwortete nicht. Es sollte Lebzeiten dauern, bis er dem Geist die Antwort geben würde. Aber er würde sich daran erinnern.

„Du hättest ihr helfen können.“

Die Schaufel wurde noch fester in den Boden gestoßen. „Du sollst die Klappe halten.“

„Du hättest sie alle retten können.“

Der Mann hatte nichts zu sagen.

Er musste wohl mehr Lärm gemacht haben, als er wollte, denn als er ein Grab für die ganzen Knochen gegraben hatte, hörte er jemanden rufen. Er ließ die Schaufel fallen und starrte über den leeren Stadtplatz zur schwelenden Ruine der Diaz-Scheune.

Eaton war tot. Es gab keinen Grund mehr, noch etwas zu verheimlichen.

Er legte die Strecke so schnell und leicht zurück, dass es seine Nachbarn schockiert hätte. Als er um eine Ecke ging, fand er Judson auf dem Boden, der gegen das Scheunentor lehnte. Judson hatte eine Kanone in der Hand und blickte ihn mit weit offenen Augen an, als er den Mann und seinen Geist erkannte.

Judson hob die Waffe mit zitternder Faust. Seine andere Hand lag auf einem dunklen Fleck an seiner Seite.

„Er hat eine Menge Blut verloren“, sagte der Geist und erleuchtete die Szene.

„Du warst die ganze Zeit einer von denen“, sagte Judson hämisch.

Der Mann lächelte. „Ich fasse es nicht, Mann.“

„Du hast uns umgebracht, du elender—“

Der Mann trat gelassen die Waffe aus Judsons Hand. Er kniete sich nieder, um mit dem Finger auf ihn zu zeigen. „Nein, das hier geht auf dich. Diese Kriegsherren haben dich geschnappt. Was hätten sie auch sonst tun sollen? Ich wollte verhindern, dass du gehst, aber dazu hatte ich kein Recht.“

Judson versuchte, nach seiner Kehle zu greifen. Doch der Mann ergriff fest seine Hand—ein vernichtender Händedruck. Judson wehrte sich erbittert, war aber zu erschöpft. Er war im Begriff zu sterben. Und der Mann war stärker als er aussah.

Der Mann hob die andere Hand, die in einem Solar-Licht aufglühte und presste sie gegen Judsons Wunde. Sein ehemaliger Freund quetschte ein hohes Jammern hervor, konnte den Griff des Mannes aber nicht lösen, auch wenn er es immer wieder versuchte.

Der Mann nickte in Richtung Judson und sagte zu seinem Geist: „Siehst du jetzt, dass er niemals aufgibt? Weil er weiß, dass dieses eine Leben alles ist, was er hat? Keine Angst.“

„Diese Erhobenen da draußen?“ Der Mann brannte die Wunde fertig aus und winkte mit seiner nun plötzlich kalten Hand in die immer dunklere Nacht. „Sie wären längst tot, wenn sie er wären. Alles was sie kennen, ist Krieg. Dieser Mann überlebt.“

Judson machte ein gurgelndes Geräusch. Er hatte aufgehört zu kämpfen, doch der Mann hielt seine Hand weiter fest.

„Du wolltest, dass ich ihn rette? Selbst, wenn das klappt, könnte er mir nie zeigen, wie man lebt. Nicht so wie er. Und das geht auf deine Kappe.“

Der Geist sah zu, nahm aber sorgfältige Einstellungen an seinem schwebenden Panzer vor und schickte Lichtscans durch die Ruinen der Stadt. Wenn in der Nähe Kriegsherren oder Eiserne Lords wären, müssten sie rennen.

Der Mann stand auf. Judson war tot.

„Vielleicht hättest du ihm sagen sollen, dass du Tiere aus riesiger Entfernung holst und hier freilässt, damit er sie fangen kann“, meinte der Geist.

„Ich meine, hast du gesehen, wie glücklich er war? Sie alle? Sie hatten etwas zu essen“, antwortete der Mann. „Gib jemandem etwas, das er jagen kann, und sein Leben hat einen Sinn.“

„Wie erbärmlich. Ist es das, was du sein willst? Ein notorischer Lügner, der Vater-Mutter-Kind mit Flüchtlingen spielt? Diese Leute sind wegen uns gestorben!“

„Ich habe hier als einer von ihnen gelebt.“

„Du könntest so viel mehr sein. Lass mich dir zeigen, wie mächtig dein Licht werden kann.“

Der Mann ging an seinem Geist vorbei und brachte Judsons Leiche ins Zentrum der Stadt. Als er wieder zu graben begann, fiel ihm die aufgeblähte, sphärische Hülle auf, die den Himmel beherrschte. Sie war schon länger nicht mehr Teil seines Lebens gewesen, doch heute Abend schien sie viel näher an der Erde zu sein.

Er hob die Hand, um sie mit einem Fingerzeig zu grüßen, während der Geist zuschaute.

„Wie geht's, wie steht's?“, sagte er und blickte gen Himmel mit einem Grinsen, das seine Augen nicht erreichte.