Kapitel 9

Die Gecko-Griffflächen an seinen Unterarmen haken ein—und halten.

„Puh“, entfährt es ihm, und noch nie zuvor hat er etwas so Albernes so aufrichtig gemeint.

Die Schwärmer wuseln und pulsieren in dem perforierten Plastiksack. Sie sind nicht die höchste aber auch nicht die niederste Lebensform auf Titan und schwirren in Zopfmustern über den eisigen Meeresgrund, was Maury auf Intelligenz schließen lässt. Nicht auf individueller Basis—nicht einmal auf Schwarmniveau—sondern wie eine Art riesiges Konzert, möglicherweise dirigiert von Leviathanen unterhalb der Eishülle, wobei die Kommunikation über die Barriere hinweg durch magnetisches Flüstern stattfindet, das die Schwärmer über organische SQUIDs empfangen. Eine Ökologie, die sich sowohl über Methan- als auch Wasser-Ammoniak-basiertes Leben erstreckt. Warum? Wie?

Maury will das unbedingt herauskriegen, doch wenn seine Neugier die Schwärmer hierher gebracht hat, nur damit sie in dem Beben enden, versprengt und zerschmettert von den Stützstreben der Arkologie, dann wird er sich das nie verzeihen.

Er hätte einen ferngesteuerten Freilassungsmechanismus installieren sollen, aber er war selbstgefällig. Er packt eine Handvoll der Plastikoberfläche des Geheges und sendet das „Desintegrationssignal“ über seinen Handschuh aus. Das Polymer zerfällt und die Schwärmer treiben auseinander. Ihre winzigen Körper saugen flüssiges Methan ab, während sie sich pumpend nach unten und weg bewegen. Sie sind sicher. Sicher. „Ich hab's geschafft!“, jubelt er. „Bin auf dem Weg nach oben!“

Das Beben setzt ein.

150 Meter tiefer schlägt der Untergrund von Kraken Mare Wogen, als wäre er flüssig. Die Arkologien antworten auf das leise geologische Geheul mit einer Kakofonie des Ächzens und Kreischens: Gelenkstangen biegen sich, Stützstreben sind stramm gespannt, Unterbauten fangen unvorstellbare mechanische Energie ab und versuchen zu verhindern, dass alles—

auseinander bricht.

In der Unterkonstruktion von Kuppel 2 muss etwas völlig festgefroren sein. Etwas muss spröde geworden sein. Das Knacken klingt wie das Brechen eines Rückgrats. Der zerschmetterte Rumpf einer Drohne taumelt an Maury vorbei, der versucht, rückwärts zu rudern, weg von dem superdichten Plasstahlarm, der wie eine Guillotine durch allzu dünnes Methan hinabschnellt und ihn zu erschl—

Bewusstlosigkeit.

Er befindet sich auf dem eisigen Meeresboden, 240 Meter in der Tiefe. Jemand brüllt ihm ins Ohr. Es ist Mia. Sie ist immer da, wenn's drauf ankommt. Immer für ihr Team da. „Maury! Maury, du bist wach! Antworte, wenn du kannst!“

Sein Sensorium sagt ihm, dass er im medizinischen Koma gelegen hat, während die Zytomaschinen um sein Leben kämpften. Massives stumpfes Trauma. Gehirnerschütterung. Der Anzug war wie immer stärker als der Mensch, der darin steckte. Kuppel 2 ist teilweise eingestürzt; sie lehnt zum Meer hin gerichtet an der beschädigten Unterkonstruktion. Er sollte helfen …

„Maury“, sagt Mia in einer Stimmlage, die er nicht wiedererkennt. Er hat sie noch niemals zuvor so ängstlich erlebt. „Hör mir zu. Das Beben ist vorbei. Aber eine Eisplatte ist in Kraken Mare gekracht. Die Verdrängungswelle ist schon im Anmarsch und du bist auf dem Grund nicht sicher. Du musst an die Oberfläche gelangen und über Wellenhöhe kommen. Das werden mindestens 50 Meter sein.“

Oberfläche? Welle? Über 50 Meter? Maury verabreicht sich einen Schuss Nootropikum, um klar denken zu können, und stöhnt durch den Schock laut auf. Er versteht. Oh, jetzt versteht er es, er muss VERSCHWINDEN. „Ich verstehe. Ich hab meinen Auftrieb verloren. Steige mit den Düsen auf.“

Er schafft es an die Oberfläche. Er ist rechtzeitig oben angekommen. Er kann sogar Kuppel 1 sehen, die noch intakt ist, auch wenn große Teile der umgebenden Takelage beschädigt sind. Einer dieser unheimlichen Exo-Soldaten steht draußen, winkt ihn mit einem Laserlicht heran, das ihm den Weg weist.

Maury öffnet seine Anzugschwingen auf volle Membranspannweite. Mit einem einzigen mächtigen Paramuskelschlag wirbelt er die Luft auf und erhebt sich aus dem Meer. Er ist in der Luft! Die Atmosphäre des Titan ist dick, die Schwerkraft gering und so ist er in der Lage, wie eine riesige Fledermaus zu fliegen. Er nimmt den Kopf runter, gewinnt langsam an Höhe und hält auf den winkenden Exo zu.

Der Laser des Exos blinkt ein Signal. GEH MIT GOTT, DU ARMER—

Maury schaut sich um.

Zuerst sieht er den Superträger, tragischerweise schwimmend, tragischerweise leicht, gebaut für Meere mit seichten 1-Meter-Gezeiten, der jetzt auf der größten Welle reitet, die Titan je gesehen hat, und zwar direkt in die angeschlagene Unterkonstruktion von Kuppel 2. Bei einem Luftdruck von 152 Kilopascal hat der durch die Kollision verursachte Höllenlärm die Kraft eines Eingeweide zerquetschenden Raketenantriebs.

Die gesamte Arkologie bricht über dem Schiff zusammen und stürzt in das Meer.

Dann blinzelt er durch die Verwüstung hindurch und erkennt das schiere Ausmaß, die wahnsinnige Geschwindigkeit, einfach die ganze von dieser unvorstellbaren, geradewegs auf ihn zurollenden Methanwelle ausgehende Gefahr.

„Oh Mann“, entfährt es ihm.