Kapitel 6

Jetzt kniet sie zitternd auf dem Teppich vor Pells verlassenem Labor, während Morgan-2 vor Trauer und Zorn brüllt. „Ich wollte das nicht. Klar? Ich kam her, damit sie nicht sterben musste!“

„Dann hättest du mir das SAGEN SOLLEN!“ Mia schreit und der Maulbeerzweig in ihrer Kehle fühlt sich an, als würde er geradewegs ihr Herz durchbohren.

„Hätten Sie mir denn geglaubt?“ Morgans Stimme klingt jetzt maschinell nüchtern. „Ich habe Ihnen unsere Waffen gezeigt. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir bereit sind zu töten.“

Aber das?! Ein ganzes Shuttle—all diese Leute … Diese armen, armen Leute …

„Ich weiß, was das bedeutet“, meldet sich David Korosec zu Wort. Er hat sich neben Mia gekniet, bleibt jedoch auf Abstand, denn er würde sie nie ohne ihr Einverständnis berühren. „Ein Kriegsgeist hat diese Waffe abgefeuert. Kriegsgeister nehmen keine Menschenleben … es sei denn, sie befinden sich im moralischen GRENZFALL-Bereich.“

„Was soll das heißen?“, fragt Mia, die irgendeinen Sinn dahinter verstehen will oder vielmehr muss.

„Es heißt“, sagt Morgan-2 unverhohlen, „dass alle Menschen als tot angenommen werden, ohne dass Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Die Kriegsgeister handeln jetzt im Sinne der Überlebensmaximierung, nicht der Schadensminimierung. Der Tod spielt keine Rolle, der Garten steht in Flammen, und jetzt geht es darum zu retten, was wir noch retten können.“

Das ergibt keinen Sinn. Mia kann in all dem keinen Sinn erkennen.

„Was, wenn sie sich irren?“ David erhebt sich. „Morgan, sie haben gerade ein Schiff voller unschuldiger Menschen zerstört, um diese Daten zurückzuhalten. Ist es das Geheimnis wert? Was, wenn sie sich irren?!“

„Sie können sich nicht irren. Sie sind zu intelligent.“

„Oh nein, so viel kannst du gar nicht vergessen haben!“ Er geht auf Morgan zu, furchtlos in seiner Autorität, trotz seiner physischen Ohnmacht. „Du weißt, dass sich Intelligenz halborthogonal zur Moral verhält! Die Kriegsgeister folgen der menschlichen Struktur, weil wir sie gebaut haben, um in unserem winzigen Flecken moralischer Landschaft zu existieren. Güte ist nicht das unausweichliche Absolutum. Sie können intelligent sein, ohne Recht zu haben!"

Die Schultern von Morgan-2 deuten ein leichtes Zucken an, so kalt und lautlos wie das Licht auf Titan. Größtenteils schafft es das Sonnenlicht nicht, bis zu diesem Ort vorzudringen. „Was willst du von mir, David?“

Es ist fast schon komisch anzusehen, wie viel größer er ist als sie. „Ich will die Daten sehen. Es existieren immer noch Kopien davon, oder nicht? In Pells Labor? Ich will mich vergewissern, dass sie wirklich zurückgehalten werden MUSSTEN.“

„Das ist zu gefährlich. Es kam direkt aus der—“ Morgan hält in sehr menschlicher Manier abrupt inne. „Es ist zu riskant.“

„Du weißt, was ich bin.“ Jetzt bettelt er sie förmlich an. „Du weißt, was ich tue, Morgan—ich studiere die menschliche Moral, interpretiere sie elegant und deutlich und vollständig, damit wir neuen Lebensformen, denen wir begegnen, unser Wesen erklären können. Du weißt, dass ich auf mich aufpassen kann. Morgan, bitte. Um unserer Freundschaft will—“

Dem Rest dieser Unterhaltung kann Mia nicht mehr folgen, weil ihr Sensorium mit einer derartig fordernden Absolutheit von einer Nachricht durchdrungen wird, dass ihre Finger taub werden.

„BOSS!“, ruft Ismail Barat. „WIR BESCHLEUNIGEN!“

Was? Mia ruft die Telemetriedaten des Titan-Satellitenrings ab. Was beschleunigt?

Sie ruft die Radardaten ab, eine Karte von der Titan-Oberfläche. Und dann sieht sie es.

Ihr Mond wird zerdrückt.

Titan wird quasi von einem Sphäroiden zu einem Ei deformiert. Irgendetwas da draußen zerrt an ihm—eine Hand mit einer Kraft größer als die Gesamtmasse des Saturns. Und der Mond reagiert darauf in der einzigen Weise, die ihm möglich ist: Er wölbt sich nach außen, schon um 15 Meter, Tendenz steigend.

Der Sog wird Dehnungen, Beben und Tiden verursachen. Und wenn er nachlässt, wird es eine Flutwelle geben, die Ziusudra und Atrahasis und Noah und Manu und Deucalion vor Angst in Deckung gehen lassen wird. Bergelmir hätte vielleicht auf einer Flut von Blut navigiert, aber nicht einmal er musste auf flüssigem Methan segeln.

Noch musste er mit den apokalyptischen Gezeitenkräften eines zweiten Ozeans rechnen, 14-mal so groß wie alle Meere der Erde zusammen, 50 Kilometer unter der Erde vergraben.