Kapitel 5

Der Strahl küsst das aufsteigende Shuttle und durchtrennt es wie ein heißer Draht einen Butterblock, als wären das Schiff und alle seine Insassen nichts weiter als Schneegraupel. Ein Donnerschlag dröhnt lauter, als man es von der Erde kennt, durch die schwere nitromethanhaltige Luft.

Mia beobachtet, wie die Trümmerteile auf den glatten schwarzen Ozean aufschlagen und versinken. Sie kann nicht atmen. In ihrer Kehle steckt eine Art geschnitzter Maulbeerzweig.

„Verstehen Sie, dass das Ihre Schuld ist?“, stöhnt Morgan-2, ohne jegliche Diskussion darüber zuzulassen, ob es tatsächlich Mia van der Vennes Schuld war (auf komplizierte Weise schon), sondern schlicht als Frage formuliert, ob sie es einsieht.

Ist Ihnen das klar, Mia? Wissen Sie, wie Sie sie getötet haben?

Sie hatte geglaubt, es sei ein guter Plan. Shanice Pell auf die Evakuierungsschiffe zu schmuggeln, war das Richtige gewesen. Weil es Shanice Pells persönlicher Autonomie Vorrang vor jedem enigmatischen Notfallprotokoll gab. Weil es Shanice eine Wahl ließ, was sie mit ihren Daten anfangen sollte, statt diese Entscheidung Morgan und ihren Exos zu überlassen.

„Warum?“, flüstert David Korosec. „Morgan, du hast all diese Menschen getötet … Warum?!“

Es hätte funktionieren müssen. Mia hat sich nie mit verdächtigen Signalen an die elektronische Kriegsführung der Exos verraten. Sie hat Pell niemals mit mechanischen Mitteln wie Blinklichtsignalen oder einem spritzenden Wasserhahn gewarnt, die eine Überwachungs-KI hätte erkennen können. Sie hat ihre Hinweise im sozialen Chaos der Arkologie-Evakuierung verborgen: Nur, indem sie es unterließ, einen Haltebefehl zu erneuern, gestattete sie einem ihrer Sicherheits-Bots, eine Führungskraft von Clovis Bray in Kuppel 2 festzusetzen. Die Unternehmensvertretung von Clovis schickte ein Team, um die Situation zu klären, und dieser unerwartete Clovis-Einsatz löste Shanice Pells Sentinel-Programme aus und leitete ihr Roter-Alarm-Evakuierungsprotokoll ein. Sie war schon dabei, wie alle anderen zu evakuieren, doch jetzt glaubte sie (berechtigterweise), dass jemand hinter ihr her war.

Shanice und ihr Laborpersonal flohen, bevor Morgans Exos sie erreichen konnten. Sie entkamen mit den Daten, die Morgan zu beschlagnahmen gekommen war.

Die Sonde. Es musste um Pells Deep-Space-Sonde gehen. Diese „Demonstration der Unabhängigkeit“, die eine derart schlimme, wortlose Kontroverse verursacht hatte. Was hatte sie entdeckt?

Als die Netzwerksensoren von Morgan-2 sie über Pells Flug benachrichtigten, dachte Mia, sie hätte gewonnen. Sie hätte die radikal autarke Wissenschaftlerin vor dem großen bösen Kriegsgeist und seinen paranoiden Schergen gerettet.

Doch Morgan-2 hatte bloß ihre gleißenden Augen verborgen. „Administratorin. Haben Sie denn nicht verstanden, dass ich die humane Option war? Haben Sie denn gar nicht nachgedacht?“

Und so feuerte der Kriegssatellit blitzschnell und heimlich die Röntgenlaserladung vom Himmel herab und entzündete den Shuttleantrieb wie eine Laterne. Der Strahl war gleißend weiß, wie flüssiges Silber, und kollabierte sofort wieder: ein Knall reinsten Donners, während der mit verbrannter Luft erfüllte Tunnel in sich zusammenfiel. Und das Shuttle brach auf wie eine grässliche Blüte, ein unförmiges, schnell aufsteigendes Etwas, nicht mehr aus einem Guss.

„Oh nein“, hatte Mia gekeucht, sie hatte nicht verstanden: War es ein Unfall? Hatte die Phantomkatastrophe Titan schließlich erreicht und ihren ersten Schlag gelandet? Dies war das Zeitalter des Lebens, Regierungen waren niemals gewaltsam gegen Menschen vorgegangen. Es gab immer Alternativen. Jede Seele war heilig. Alles Böse war behandelbar.

Dann verstand sie, was der Kriegsgeist getan hatte.